Nachdem wir uns auf den letzten Metern in Griechenland schonmal an das Fahren auf der Autobahn gewöhnen konnten, geht es nach einem extrem freundlichen Empfang an der türkischen Grenze bei Ipsala in der Türkei ähnlich weiter. Zwei Spuren in beide Richtungen und ein breiter Standstreifen. Die Landschaft ist weitläufig, hügelig und braun gefärbt. Der erste Ort hinter der Grenze wirkt irgendwie verlassen. Oft habe ich mich auf der Reise gefragt warum Grenzregionen vielerorts so verlassen sind. Hier trifft das wieder zu, die letzte echte Ortschaft war schließlich Alexandroupoli.
Das hier in der Türkei vieles anders wird, zeigt sich schon an den vielen Moscheen rechts und links neben der Straße. Viel los ist hier noch nicht auf der D100. Hin und wieder rauschen Diesel-LKWs an uns vorbei, welche an diesen langen endlosen Hügel auch hart zu arbeiten haben. Partikelfilter gibts hier nicht, das erkennt man an großen schwarzen Wolken. Plötzlich fährt von links ein Motorradfahrer auf, natürlich wie aus Griechenland schon gewohnt ohne Helm. Das komische ist nur, er fährt entgegen der Fahrtrichtung und gerade auf uns zu. Da wird mir schon etwas mulmig, denn sowas sind wir nicht gewöhnt. Es stellt sich heraus: Er will uns nur willkommen heißen und wissen, wo wir her kommen, wo wir hin wollen und ob uns bei dem Wetter nicht kalt ist. Alles sehr, sehr nett.
Unser Tagesziel Kesan liegt nach ca 75km etwas ab der D100, an einem steilen Berg gelegen. Weil es auch hier jetzt schon gegen sechs dunkel wird und die Nächte recht kalt sind, haben wir eine Unterkunft gebucht. Die vielen Eindrücke hier sind schwer zu beschreiben. Allein auf dem Fahrrad hier am Verkehr teilzunehmen, fordert alle Sinne. Hier wird anders gefahren als bei uns. Verkehr ist hier eher ein kommunikatives Miteinander ohne Regeln. Ob die Straße in der Ortschaft ein, zwei oder drei Fahrspuren hat bestimmen die Verkehrsteilnehmer, keine Markierungen…. Wer hat Vorfahrt? Der, der es am eiligsten hat!
Das Ganze ist etwas gewöhnungsbedürftig. Ich habe hier aber das Gefühl eher als Verkehrsteilnehmer wahrgenommen zu werden als zuhause. Wählt man zielstrebig und selbstbewusst seine Linie durch das Gewimmel, so wird man auch von allen wahrgenommen und meist auch akzeptiert. Hält man sich brav auf dem rechten Seitenstreifen auf, so kommt man natürlich nicht weit.
Die steile Auffahrt nach Kesan hat was. Die Stadt besteht hauptsächlich aus mindestens fünfstöckigen eng aneinander gebauten Häusern mit engen Straßen dazwischen. Diese sind voll mit alten verbeulten Autos, Menschen, Hunden, Mofas, Katzen, Gemüseständen, Fischhändlern usw. Das meiste davon in Bewegung. Oben angekommen stellen wir fest, dass Markt ist und beginnen die Suche nach dem Hotel. Hier werden wir überfreundlich empfangen und zum ersten mal auf der Reise wird unser Gepäck aufs Zimmer getragen. Und das Hotel ist wirklich nichts Besonderes. Wir ziehen uns kurz um und erkunden die Stadt.
Der Markt besteht leider nur Eingangs aus Fischhändlern, danach wird nur noch Kleidung gehandelt. Wir besorgen uns im Obst- und Gemüsegeschäft super leckere Mandarinen und gehen danach essen. Richtig türkisch, echter Kebab am Metallspies. Lecker! Ich habe den Wechsel in ein muslimisches Land noch gar nicht richtig drin und bestelle ein Bier dazu. Ich werde aber nur freundlich darauf hingewiesen, dass sie es nicht haben. Weil das Essen so lecker war, steuern wir auf dem Weg zurück einen zweiten Imbiss an. Wobei man in der Türkei auch in Imbissen bedient wird. Hier gibt es die leckerste lokale Spezialität deren Namen wir nicht kennen. Kleine Streifen Rinderhüfte, gebraten in einer großen Pfanne und mit kleinen Stücken knuspriger Panade. Ölig, würzig, knusprig – lecker!
Am nächsten Morgen geht’s wieder zurück auf die wunderbare D100. Wir haben klares Herbstwetter. Auf unseren 75 wieder sehr hügeligen Kilometern nach Tekirdag trinkt jeder von uns fast zehn türkische Tees… oft bekommen wir diese sogar geschenkt.
Unterwegs hält uns ein lustiger Obsthändler an. Unsere Sprachkenntnisse überschneiden sich gar nicht, aber das Obst ist lecker und der Händler fröhlich. Für das Bild holt er noch die Mütze aus dem Wohnwagen und positioniert sich bewusst so, dass die Moschee im Hintergrund ist.
Kurz vor Tekirdag geht’s noch mal auf einen etwas größeren Hügel. Mit der Sonne im Rücken und dem längsten denkbaren eigenen Schatten vor uns genießen wir die Abfahrt nach Tekirdag. Tekirdag liegt direkt am Marmarameer. Die D100 und wir folgen ab jetzt der Küste bis nach Istanbul.
Hier in Tekirdag gönnen wir uns erstmal Lamacun, wie aus Deutschland gewöhnt bestellen wir erstmal nur einen. Da hier aber nur der dünn belegte Teig mit etwas Salat und Zitrone gereicht wird, werden es am Ende drei Stück pro Person. Aber es ist wieder extrem lecker und super authentisch hier. Der einzig englischsprachige der Lamacunbäcker hinter dem Tresen kommt übrigens aus Turkmenistan. In solchen Momenten wird mir klar, dass wir auch schon ziemlich weit weg sind von zuhause. Gut gesättigt geht’s ab ins Bett.
Für die vorletzte Tagesetappe stehen wieder gut 80km an. Silivri ist unser Ziel.
Die D100 füllt sich an diesem Tag mehr und mehr. Nach der Mittagspause haben wir zum ersten mal Istanbul im Blick. Wir haben aber noch ca. 120-130km zu Radeln. Die Vorfreude auf Morgen steigt mit Blick auf die Stadt nochmal an.
Auf den letzten 20km nach Silivri fällt der Standstreifen plötzlich weg und wir müssen knapp an der Leitplanke längs, weil der Verkehr hier schon sehr dicht ist. Wenn der Verkehr weiter so zunimmt, wird das extrem anstrengend morgen. Die Nervosität steigt.
Überraschenderweise steuern wir in Silivri erstmal wieder einen Imbiss an. Hier gönnen wir uns erstmals Köfte. Und wieder ist es so bekömmlich, dass wir Nachschlag bestellen.
Am Abend lese ich etwas über gute Radrouten nach Istanbul rein. Ich plane die sicherste und effektivste Route am Tablet, 85km kommen raus. Anfangs geht es über Parallelstraßen zur D100, später weitestgehend der Küste längs um dann am Ende diagonal durch den europäischen Teil Istanbuls zu fahren. Wir beschließen also recht früh zu starten.
Was uns am nächsten Tag erwartet, ist einfach der Wahnsinn. Morgens gegen 9 sitzen wir im Sattel und radeln vom Start weg durch dicht besiedeltes Gebiet. Der Verkehr ist hier auf den Nebenstraßen noch erträglich. Nach ca. 30km passieren wir eine Brücke und dahinter steht das Ortsschild. Istanbul.
Planmäßig sind es noch 55km ins Zentrum. Bisher war die Route super, nicht zuviel Verkehr, rechts das Meer, links die Stadt. Alles bei sonnigem Wetter. Am Hafen vorbei geht’s über einen relativ hohen Berg, immerhin 120m direkt am Meer. Die Abfahrt hier runter ist krass. Ziemlich steil geht’s plötzlich auf eine vierspurige Schnellstraße mit viel Verkehr und vielen LKWs. Dazu über uns noch so ein Riesenhelikopter, welcher Schiffscontainer transportieren kann. Hier ist was los! Kurz vor der Abfahrt, auf der wir raus wollen, hat die Ladungssicherung bei einem Kleinlaster mit dünnen aber großen Styroporplatten nicht gut funktioniert. Das gibt ein schönes Chaos hier. Zwischen fliegenden größeren Platten und rumliegenden kleineren Stücken verlassen wir mit etwas erhöhtem Adrenalin unbeschadet die Schnellstraße.
Wieder an der Küste gibt es doch tatsächlich einen Radweg entlang, der von wilden, schlafenden Hunden besiedelten Uferpromenade. Dieser ist zwar nicht durchgängig, aber bis auf kleinere Abstecher in das Gewimmel der Istanbuler Vororte lässt es sich hier gut radeln.
Bei einem dieser Abstecher springt mir bei einem kurzen Stop eine wilde Katze aufs Gepäck. Oder aufs Gebäck? Die hat bestimmt das Börek gerochen. Gesund sieht die Katze nicht aus, ich will sie nicht anpacken und vom Gepäck bekomme ich sie so nicht runter. Also fahre ich erstmal im Stehen weiter… Bei etwa 30 Sachen in einer kurzen steilen Abfahrt springt sie ab, schliddert etwas über den Asphalt und bleibt wie versteinert stehen. Sie wird nicht überfahren. Der nächste Taxifahrer bekommt sie auch mit einem üppigen Hupkonzert nicht von der Straße, also steigt er aus und scheucht sie von der Straße. Alles gut, weiter geht’s. Das Börek ist auch noch in der Tüte! Für die, die es (noch) nicht kennen: Börek ist ein mit Schafskäse oder gewürztem Hack gefülltes Blätterteiggebäck. Für Radler gut zu jeder Zeit.
Eng wird’s hier immer bei den Brücken über die Meeresbuchten. Hier muss man wieder auf die D100, diese hat hier mit Auffarten 6-8 Spuren. Voll mit hupenden Autos. Nach der letzten Bucht geht es am Ufer entlang am Flughafen vorbei. Der Verkehr muss im Land am Flughafen vorbei. Wir machen hier eine ausgiebige Pause, die wir mit Planespotting verbringen. Laut Plan sind es ja nur noch ca. 20km.
Also schwingen wir uns wieder in den Sattel und folgen dem Küstenradweg bis es nicht mehr geht. Etwas zu weit. Wir dürfen anderthalb Kilometer zurück, bis wir die Promenade wieder ohne Treppe verlassen können. Jetzt geht’s richtig los. Rein ins Zentrum. Ich folge der lilafarbenen Linie auf dem GPS und Caro folgt mir. Bis wir wieder auf einer vierspurigen Straße sind und die lilafarbene Linie nach rechts abbiegt. Ich kann nicht folgen denn dort ist ein Betonwall. Also folge ich der Straße weiter. Diese macht über einen Kilometer einen so langen Bogen, dass wir nun komplett in die falsche Richtung fahren. Eine Möglichkeit abzubiegen war nicht gegeben. Oder doch? Da war ein großer Schotterparkplatz. Also zurück. Hinter dem Parkplatz geht es tatsächlich weiter. Irgendwie finde ich nach zwei drei Kilometern die lila Linie wieder. Zwischen Hochhäusern hängen hier Türkeifahnen von locker 10m x 20m. Der Verkehr wird immer dichter, wir radeln durch Einkaufsstraßen, ärmliche Wohnsiedlung und schließlich durch die alte Stadtmauer.
Zigzag geht’s durch kleinste Einbahnstraßen, dann geht’s plötzlich immer steiler bergauf. Wo die Linie am GPS einfach weiter geht, ist vor uns eine lange Treppe. Es wird langsam dunkel und bevor wir uns wieder verfahren, trage ich die Räder lieber hier hoch. Der Kilometerstand ist für heute schon über 90. Es geht weiter bergauf nur um dann, über zwei längere Treppen wieder bergab zu gehen. Es ist mittlerweile dunkel und die kleinen Gassen sind spärlich beleuchtet. Beim Runterfahren versuchen sich spielende Kinder an unseren Taschen festzuhalten, um mitzufahren. Wir sind doch keine LKWs…
Dann endet die Linie im GPS und tatsächlich: Wir sind da! Isil, unsere nette Gastgeberin wartet schon im Appartement. Schnell erkennt sie, wie erschöpft wir sind und bietet an uns Essen zu bestellen und dann zwecks Empfang morgen zum Frühstück wieder zu kommen. Die Räder schließen wir in einem freien Appartement ein. Nach einer Linsensuppe, mehreren Lamacun und etwas Brot fallen wir totmüde ins Bett. Die letzten Fahrtage in der Türkei und insbesondere die letzte Fahrt nach Istanbul waren einfach umwerfend. Wir sind gespannt, wie es hier bei Tageslicht aussieht.